Christina Mathis, Copywriter und Texterin

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Kampf dem Plastikmüll

Plastik ist allgegenwärtig. Es steckt in Verpackungen, Smartphones und medizinischen Geräten. Doch beinahe die Hälfte aller Produkte ist nach weniger als einem Monat Abfall. Plastikmüll verursacht große Umweltprobleme und nur ein Bruchteil landet im Recycling. Es gibt keine universelle Wunderwaffe dagegen. Die Lösung erfordert einen ganzheitlichen Ansatz. Ein neues Recyclingverfahren aus Schweden zeigt es vor.

Deutschland wird gerne als Recyclingweltmeister bezeichnet. „Das ist aber nur Wunschdenken“, heißt es im Plastikatlas 2019 des Bunds für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) und der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung. Laut Umweltbundesamt (UBA) verwertete die Abfallwirtschaft 2017 die gesammelten Kunststoffabfälle zu rund 99 Prozent. Trügerisch kann hier der Begriff „Verwertung“ sein, denn es macht einen großen Unterschied, ob etwas verwertet oder tatsächlich wiederverwendet wird. Offiziell sind die Recyclingquoten in Deutschland deshalb relativ hoch. Sie täuschen jedoch darüber hinweg, dass sie sich lediglich auf die Anlieferung bei einem Recyclingunternehmen, nicht aber auf das wirklich recycelte Material beziehen.

Verwertung ist nicht gleich Recycling

Die Deutsche Umwelthilfe schätzt, dass die tatsächliche Recyclingquote bei Kunststoffverpackungen bei etwa 38 Prozent liegt. Diese Zahl bezieht sich rein auf die werkstoffliche Verwertung der „Post-Consumer-Abfälle“, also Plastikmüll, der durch Konsum entsteht. Dieser macht rund 85 Prozent des im Jahr 2017 gesammelten Kunststoffabfalls in Deutschland aus.

Bei stofflicher Verwertung wird zwischen „werkstofflicher“ und „rohstofflicher“ Verwertung unterschieden. „Werkstofflich bedeutet, der Werkstoff, beispielsweise Kunststoff, wird sortiert, zerkleinert, gewaschen, geschmolzen und zu neuen Kunststoffteilen verarbeitet“, erklärt Petra Weißhaupt vom UBA. Nur ein Prozent machte 2017 die rohstoffliche Verwertung aus. Kunststoff wird dabei durch Aufbrechen seiner polymeren Strukturen in einem chemischen Verfahren „rückwärts“ in kleine Bestandteile, zum Beispiel in Gase, zerlegt und dann als Brenn- oder Treibstoff eingesetzt.

Von den 2017 in Deutschland nach dem Gebrauch angefallenen 5,2 Millionen Tonnen Kunststoffabfällen wurde der Großteil, rund 67 Prozent, „energetisch“ verwertet. Das heißt in Müllverbrennungsanlagen verbrannt oder als Ersatzbrennstoff in Kraftwerken eingesetzt. Gerade mal 810.000 Tonnen Rezyklat (recycelter Kunststoff) aus Post-Consumer-Abfällen wurde für die Herstellung von neuen Kunststoffprodukten verwendet. Das entspricht einer tatsächlichen Recyclingquote von rund 16 Prozent bei Kunststoffabfall. In Deutschland wird somit mehr als die Hälfte des Plastikabfalls verbrannt und nur ein geringer Bruchteil wirklich wiederverwendet. Von einer funktionierenden Kreislaufwirtschaft ist das weit entfernt, sagen deshalb BUND und Böllstiftung.

Plastik ist nicht gleich Plastik

Wurden in den 1950er Jahren weltweit knapp zwei Millionen Tonnen Plastik pro Jahr produziert, sind es heute fast 400 Millionen Tonnen. Vier bis acht Prozent des globalen Erdöl- und Erdgasverbrauchs werden für die Herstellung verwendet. Auch in Deutschland wird immer mehr Plastik produziert und verbraucht. Die Kunststoffabfallmenge im Post-Consumer-Bereich von 1994 bis 2017 hat sich fast verdreifacht. Plastik ist aus unserem Alltag kaum mehr wegzudenken. 30 Prozent der in Deutschland verarbeiteten Kunststoffe werden für Verpackungen verwendet, den allergrößten Teil machen Einwegprodukte aus.

Aber Plastik ist nicht gleich Plastik. Manche Produkte werden über Jahrzehnte lang verwendet. Bauprodukte aus Kunststoff, wie Rohre, halten mehr als 80 Jahre. Langlebige Kunststoffprodukte sind weniger problematisch als kurzlebige, weil sie im Vergleich zum Verbrauch nur einen Bruchteil an Abfall produzieren. In der Medizin führte der Einsatz von Kunststoff durch sterile Verpackungen zu verbesserter Hygiene oder in der Luftfahrt zu Gewichtseinsparungen und reduziertem Treibstoffverbrauch. Ohne Kunststoff könnte heute kein Auto mehr fahren. Verpackungen aus Plastik werden jedoch nur sehr kurz benutzt. Viele Produkte des täglichen Bedarfs landen deshalb schnell im Müll.

Rohstoff ist Fluch und Segen

Die Eigenschaften von Kunststoff sind Fluch und Segen zugleich. Das Material, ein Abfallprodukt der petrochemischen Industrie, ist deshalb so beliebt, weil es leicht, stabil und vielseitig ist. Zudem sind Kunststoffe in der Produktion meist kostengünstiger als andere Materialien und die Rohstoffversorgung gilt als gesichert. Ein Vorteil von Kunststoff, die lange Haltbarkeit, ist zugleich sein größtes Problem. Bis zu 450 Jahre dauert es, bis sich eine Plastikflasche in der Umwelt zersetzt. Laut UBA besteht dreiviertel des Mülls im Meer bereits aus Kunststoffen. Mehr als zehn Millionen Tonnen Plastikabfälle gelangen jedes Jahr allein von Land in die Ozeane, heißt es beim Naturschutzbund Deutschland (NABU). Das koste Millionen von Meerestieren das Leben. Mit der Zeit zerfallen die Plastikabfälle zudem in kleinere Teile: das Mikroplastik. Inwiefern das für die Gesundheit von Meereslebewesen und Menschen schädlich ist, wurde bislang noch nicht ausreichend erforscht. Fehlende Abfallsysteme sind ein Hauptgrund dafür, dass so viel Plastikmüll im Meer landet. In Entwicklungsländern wird der Müll meist verbrannt oder türmt sich an Land und wird massenhaft über Flüsse ins Meer gespült. Wobei große Unterschiede zwischen den Ländern bestehen: zwei Milliarden Menschen haben weltweit keinen Zugang zu Abfallentsorgungssystemen.

Aus den Augen, aus dem Sinn

China gilt als größter Emittent von Plastikabfällen in die Weltmeere. Deutschland ist daran nicht unbeteiligt – es ist der drittgrößte Exporteur von Plastikmüll weltweit. „Deutschland ist nicht Recyclingweltmeister, aber sehr gut darin, Plastikmüll zu exportieren“, so Barbara Unmüßig, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung. Der Skandal dabei: Wenn Verpackungsmüll aus Deutschland exportiert werde, gelte dieser als offiziell recycelt und könne sogar in die Berechnung der deutschen Recyclingquoten integriert werden. „Nach dem Prinzip ‚Aus den Augen, aus dem Sinn’ exportieren wir unseren Plastikabfall in Drittländer und verlagern das Problem somit nur räumlich“, sagt BUND-Vorsitzender Hubert Weiger.

Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes exportierte Deutschland im Jahr 2016 knapp 1,5 Millionen Tonnen Kunststoffe im Wert von knapp einer halben Milliarde US-Dollar ins Ausland. Bis zum Importstopp 2018 war China das wichtigste Zielland deutscher und europäischer Recyclingkunststoffe. Seither dürfen minderwertige Plastikabfälle nicht mehr in die Volksrepublik eingeführt werden. Deutschlands Exporte gehen jetzt nach Südostasien oder in die Niederlande, und über Umwege auch wieder nach China. Entgegen der ursprünglichen Intention, Plastik als hochwertiges Material zu etablieren, fehlt in ärmeren Teilen der Welt oft die Infrastruktur, um den Müll umweltgerecht zu entsorgen.

Neues Recyclingverfahren soll Kreislauf schließen

„Wir sollten nicht vergessen, dass Kunststoff ein fantastisches Material ist – es gibt uns Produkte, von denen wir sonst nur träumen können. Das Problem ist, dass es billiger ist, neue Kunststoffe aus Öl und fossilem Gas zu produzieren als aus recycelten Kunststoffabfällen“, sagt Henrik Thunman, Professor für Energietechnologie an der Chalmers University of Technology in Schweden.

Er leitet eine Forschungsgruppe in Göteborg, die ein neues thermochemisches Verfahren entwickelt hat, um alle Arten von Kunststoffabfällen in neuen Kunststoff zu recyceln – und das in der gleichen Qualität wie das Original.*

Die Kunststoffabfälle werden dabei auf molekularer Ebene abgebaut. Die entstehenden Gase können dann wieder in neue Kunststoffe umgewandelt werden. Durch die Entwicklung eines neuen Dampfspaltungssystems konnten die Forscher bislang 200 Kilogramm Abfälle pro Stunde in ein nützliches Gasgemisch verwandeln.

Professor Thunman sieht in der Widerstandsfähigkeit von Kunststoff einen entscheidenden Vorteil: „Die Tatsache, dass es sich nicht verschlechtert, macht eine kreisförmige Nutzung möglich, die einen positiven Wert für gebrauchte Kunststoffe und damit einen wirtschaftlichen Impuls zur Sammlung schafft.“

Er wolle damit weg von einer „linearen Abfallhierarchie“. Das bedeutet, dass Kunststoff wiederholt in immer schlechterer Qualität abgebaut und schließlich verbrannt oder deponiert wird. „Wir haben bewiesen, dass unser Verfahren technisch und wirtschaftlich machbar ist und in bestehende petrochemische Anlagen integriert werden kann“, sagt Thunman. Auch biobasierte Altmaterialien wie Papier, Holz oder Kleidung könnten als Rohstoff für den chemischen Prozess verwendet werden.

Das neue Verfahren soll heutige Kunststofffabriken in Recyclingfabriken umwandeln. Der Prozess wurde an der bestehenden Infrastruktur des petrochemischen Clusters in Stenungsund in Schweden getestet. Mehrere große Chemiekonzerne wie Ineos oder Borealis stellen dort einen Teil ihrer Produkte her. „Wir können damit vollständig von fossilen Ressourcen auf recycelte Kunststoffabfälle umstellen und den Materialkreislauf von Kunststoffprodukten schließen“, so der Schwede.

Die meisten Anlagen würden rund ein bis zwei Millionen Tonnen Kunststoffabfall pro Jahr benötigen, um das Produktionsniveau zu erreichen. Die petrochemische Industrie brauche einen wirtschaftlichen Impuls, um den Wandel zu bewirken. „Sie verwendet das billigste Rohmaterial, das sie auf dem Markt bekommen kann. Deshalb müssen wir einen europäischen Markt für recycelte Kunststoffe aufbauen. Der nächste Schritt ist ein System, das diese Materialien kostengünstig zur Verfügung stellt“, fordert Thunman.

Nur wenn Kunststoffabfälle, auch Mischprodukte, wieder einen Wert bekommen, könne sich das Recyclingsystem ändern. Ihr Verfahren könne ein Anreiz sein, die Kunststoffabfälle im eigenen Land zu halten oder aus Ländern zu importieren, die über kein funktionierendes Abfallrecyclingsystem verfügen. „Das kann einen neuen Markt für die Entsorgung von Kunststoffabfällen für die ärmeren Teile der Welt schaffen“, meint Thunman.

Die schwedischen Forscher arbeiten zurzeit an den Details, um das Risiko für die Industrie zur Umsetzung zu verringern. „Das ist notwendig, um den Prozess von einigen Tonnen Kunststoff pro Tag auf Hunderte von Tonnen zu steigern. Dann wird es kommerziell interessant“, erklärt Thunman. Diese Art von Recyclinglösung werde kommen, es sei nur eine Frage der Zeit und ob es genügend recycelte Materialien gebe.

Das Umweltbundesamt hegt Zweifel und meint, dass es derzeit mehrere Ansätze des rohstofflichen Kunststoffrecyclings gibt, die aber noch nicht über das Forschungsstadium hinausgekommen sind. „Derzeit ist lediglich das werkstoffliche Recycling technisch etabliert und verbreitet“, sagt Petra Weißhaupt. Auch seien alle Versuche durch rohstoffliches Recycling neue Grundkomponenten für die Herstellung von Kunststoff zu erzeugen, in größerem Maßstab noch nicht erfolgreich.

Die schwedischen Forscher sehen ihr Verfahren dagegen als globale Lösung.  Auch bei fortschrittlichen Sortiersystemen sei werkstoffliches Recycling nur für bestimmte Regionen der Welt leistbar und könne meist nur minderwertige Produkte herstellen. „Kunststoff ist für mich eines der demokratischsten Materialien. Alle Einkommensstufen können es sich leisten. Kunststoff kann jede Art von Materialbedarf decken und durch unser Verfahren unendlich oft recycelt werden“, sagt Thunman.

In Schweden wurden 2017 von rund 1,6 Millionen Tonnen Kunststoffabfällen nur etwa acht Prozent zu minderwertigen Kunststoffen recycelt. „Trotz erheblicher Anstrengungen bei der Sammlung und Sortierung, ein großer Teil des Plastikabfalls besteht aus Mischkunststoffen und kann deshalb nicht werkstofflich verwertet werden. Um Entsorgung und Verbrennung zu vermeiden, brauchen wir effiziente industrielle Prozesse, die das Recycling gemischter Abfallströme möglich machen“, so Thunman.

Paradigmenwechsel erfordert Umdenken

Fakt ist: von einer Kreislaufwirtschaft kann derzeit nicht gesprochen werden, weder in Deutschland noch weltweit. Hersteller nutzen für ihre Produkte lieber neuwertigen Kunststoff als Rezyklat. Deshalb fordern BUND und Böllstiftung das Plastikproblem nicht nur auf die Abfallwirtschaft und Verbraucherinnen abzuschieben, sondern die Kunststoffproduzenten stärker in die Pflicht zu nehmen.

Das versucht auch die EU und die deutsche Bundesregierung. Ab 2030 sollen alle Kunststoffverpackungen in der EU zu 100 Prozent recycelbar sein. Ein Verbot von verschiedenen Einwegplastikartikeln wie Plastikstrohhalme hat die EU bereits auf den Weg gebracht. Dennoch halten viele Experten die EU-Kunststoffstrategie für zu unkonkret, was dem Lobbydruck der mächtigen Industrie geschuldet sei. „Es bestehen kaum Regelungen, die die Hersteller verpflichten, die Produktion zu drosseln oder recyclingfreundliche Produkte zu entwickeln“, heißt es im Plastikatlas. Zudem müsse die EU stärker darauf achten, unter welchen Bedingungen die Kunststoffe im Ausland verwertet werden.

In Deutschland wurde die Kunststoff-Recyclingquote 2019 mit dem neuen Verpackungsgesetz auf 58,5 Prozent erhöht. Jeder, der Verpackungen in Umlauf bringt, muss für deren Rücknahme und Verwertung verantwortlich sein. Ab 2022 soll die Recyclingquote auf 63 Prozent steigen. „Die Hersteller müssen Verpackungen auch lizenzieren und registrieren. Derzeit ist die Beteiligungsquote noch zu gering und die Zahl der Trittbrettfahrer zu hoch“, sagt Petra Weißhaupt vom UBA.

Auch der WWF und NABU sind sich einig: Kunststoffrezyklate müssen vermehrt eingesetzt und die Recyclingfähigkeit von Verpackungen belohnt werden. Bestimmte Formen von Plastik, wie Mikroplastik in Kosmetika, sollen verboten werden. Der NABU fordert zudem quantitative Abfallvermeidungsziele, mehr Mehrwegsysteme und klare Vorgaben für recyclingfreundliches Design von Plastikprodukten. Auch solle in neue Sortier- und Recyclingtechnologien investiert und eine Wertstofftonne eingeführt werden.

Laut Plastikatlas braucht es eine Kombination aus harten und weichen Maßnahmen. Gemeinden und Städte sollen wirtschaftliche Anreize erhalten, wie Prämien oder Sanktionen, um die politischen Vorgaben zu erreichen. Wichtig sei, die Bevölkerung und Unternehmen in allen Phasen des Wandels miteinzubeziehen. Denn bessere Mülltrennung und Recycling allein würden das Problem nicht lösen. Gefragt seien Ideen, die das Problem an der Wurzel anpacken, wie „Zero Waste“-Initiativen. Also Systeme, die von vornherein keinen Abfall erzeugen und eine echte Kreislaufwirtschaft rundum Kunststoffe fördern. Das ist auch das erklärte Ziel der schwedischen Forscher: „Ein echter Paradigmenwechsel erfordert Umdenken“, so Thunman. Das ist auch das Credo des Plastikatlas: „Was vorne nicht eingesetzt wird, kann hinten nicht rauskommen.“

*Anmerkung: Die Forschungsstudie wurde von der schwedischen Energiebehörde finanziell unterstützt. Die Ergebnisse wurden kürzlich im Journal „Sustainable Materials and Technologies“ veröffentlicht und sind öffentlich zugänglich.